Sex & Toleranz

Sieht man sich die immer mehr werdenden Seiten mit sexuellem Inhalt im Internet an, fällt auf, dass kaum eine Form der Sexualität nicht vertreten ist. Blümchen-Sex, Windelspiele, Atemreduktion, Spanking, Fetisch – um nur einige zu nennen. Tabus scheinen nicht mehr vorhanden. Hätte man in früheren Zeiten ein Foto veröffentlicht, auf dem ein Mann eine Dame mit der Gerte züchtigt, hätte dies einen medialen Aufschrei ausgelöst. Heute kräht kein Hahn mehr danach; das WWW ist voll von Abbildungen dieser Art, welche noch zu den Harmlosesten zählen.


Sexuelle Praktiken sind – sofern sie nicht gesetzlich verboten sind und keinem Menschen schaden – Geschmackssache, wie vieles andere im Leben auch. Immer wieder taucht jedoch die nicht ganz unberechtigte Frage der Moral auf. Verletzen manche Arten der Sexualität jegliches Gefühl für Anstand und Sittlichkeit? Rufen sie Zweifel hervor, ob das, was da geschieht, noch moralisch vertretbar ist? Nehmen wir das Beispiel des Mannes, der seine Frau mit der Gerte züchtigt. Würden Sie diese Spielart als verwerflich titulieren? Die große Bandbreite der Meinungen zu diesem Thema hängt vor allem von der riesigen Bandbreite der Erfahrungen ab, die ein Mensch in seinem Leben gemacht hat. Ist eine Frau masochistisch veranlagt, wird sie dieses Bild kaum als wider die Moral abtun. Wurde eine Frau als Kind geschlagen, von ihrem Ehemann verprügelt oder Opfer einer Vergewaltigung, sieht die Beurteilung einer solchen Szene verständlicherweise gleich ganz anders aus. Welcher Standpunkt ist nun richtig? Eine schwierige Frage, die kaum zu beantworten ist, da jede Auffassung etwas für sich hat. Möglicherweise kann man sich jedoch zumindest auf eine Formel einigen: Wird kein Mensch zu irgendwelchen Praktiken gezwungen, agieren alle beteiligten Parteien freiwillig und lustvoll, kann die Aktion so verwerflich nicht sein – auch wenn sie nicht immer den Geschmack Außenstehender trifft.

Nehmen wir den Fall eines Mannes, der mit Windeln bekleidet und mit Schnuller im Mund durch sein Wohnzimmer krabbelt? Stößt Sie diese Vorstellung ab oder lachen Sie darüber? Wahrscheinlich wird Sie Ihnen, falls Sie sie nicht als anregend empfinden, ein Schmunzeln entlocken – oder auch den Satz: „Nun, wenn es ihm Spaß macht!“ Da bei diesem Beispiel niemand geschlagen oder vermeintlich gepeinigt wird, ist Toleranz einfacher zu üben.

Nun gibt es jedoch auch Spiele, die zwar keinem Beteiligten körperlichen Schaden zufügen, jedoch in den Augen der nicht davon Begeisterten – vorsichtig ausgedrückt – auf Unverständnis und Ekel stoßen. Natursekt und Kaviar, was für den Eingeweihten Urin und Kot bedeutet, zählen zu diesen Vorlieben. Natürlich sagt man sich – wenn diese Substanzen im gegenseitigen Einverständnis verwendet werden und beiden Lust verschaffen, warum nicht? Doch ein unbehagliches Gefühl bleibt. Akzeptanz ist immer dann schwer zu erreichen, wenn sexuelle Vorlieben den Dingen widersprechen, die wir unser Leben lang als gut, wertvoll und (in diesem Fall) „rein“ kennengelernt haben.

Die mangelnde Toleranz macht es denjenigen Menschen, welche nun einmal anders veranlagt sind als der Rest der Bevölkerung, nicht gerade einfach. Es ist ein langer Weg, sich selbst zu akzeptieren, wenn man bereits weiß, dass andere es nicht tun werden. Stellen Sie sich eine junge Frau vor, die nach und nach dahinterkommt, dass ihr devotes Verhalten Lust bereitet, die sich andererseits jedoch für Frauenrechte starkmacht und gegen jedwede Form der Gewalt gegenüber Menschen eintritt. Die eigene Zerrissenheit wird diese Frau Jahre lang begleiten. Die Kluft zwischen ihrer Veranlagung und ihrem allgemeinen Weltbild ist eine kaum zu schließende – bereits ohne die ablehnende Haltung der Gesellschaft.

Doch blickt man auf den Wandel der letzten Jahrzehnte zurück, ist Optimismus angesagt. Vor zwanzig Jahren war das Thema Homosexualität zum Beispiel noch mit Tabus behaftet, heute haben viele Staaten gleichgeschlechtliche Partnerschaften bereits rechtlich einer Ehe zwischen Mann und Frau angeglichen. Sich zu outen, ist für viele Homosexuelle kein mit Angst und Scham behafteter Vorgang mehr.
Vielleicht werden wir in einigen Jahrzehnten Fetischen und anderen sexuellen Praktiken, die uns heute noch absonderlich erscheinen, ebenfalls toleranter gegenüberstehen. Vielleicht werden wir sie nicht nur tolerieren, sondern sie auch akzeptieren – oder im besten Fall gar kein Wort mehr darüber verlieren, weil wir sie als normal ansehen und so keines Kommentars mehr wert finden.
Ein anderer Denkansatz, der in Zeiten des Internets – wo das Private eben nicht mehr privat bleibt – vielleicht merkwürdig anmutet, wäre, jeden Menschen das tun zu lassen, was ihm Spaß macht, solange damit keinem anderen Individuum Schaden zugefügt wird. Wir müssen nicht alles verstehen, was unser Nachbar tut – und auch nicht in alles unsere Nase hineinstecken.

Abnorm – normal? Eine Frage, die so viele Antworten zulässt, wie es Menschen gibt auf dieser Welt.

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